Tyrannenwahn: Stalin ließ Russlands wichtigste Kirche sprengen - WELT

2022-06-25 09:23:11 By : Ms. Jannie Zheng

E s war Vandalismus mit monatelanger Ansage. Schon im Frühsommer 1931 hatte der Chef der Moskauer KP-Organisation, Lasar Kaganowitsch, verkünden lassen, die Christ-Erlöser-Kathedrale vis-à-vis des Kremls, die wichtigste Kirche der russisch-orthodoxen Christenheit, werde durch einen „Sowjetpalast“ ersetzt.

Die Redakteure des „Badischen Beobachters“, der Zeitung der katholischen Zentrumspartei in der Landeshauptstadt Karlsruhe, konnten (oder wollten) sich das nicht vorstellen. Jedenfalls fabulierten sie am 28. Juni 1931: „Wahrscheinlich wird man die Kathedrale, die Platz für 10.000 Menschen bietet, nicht niederreißen, sondern für ihre neue Bestimmung unter mehr oder minder starke Veränderungen des äußeren Bildes umbauen.“

Doch derlei hatte Kaganowitsch, einer der engsten Vertrauten von Josef Stalin (er hatte öffentlich erklärt, absolut jeden Befehl Stalins ausführen zu wollen), niemals vor. Im November 1931 ließ der „Feuerwehrmann“ des Politbüros die Vergoldung der fünf Kuppeln abnehmen; außerdem wurden die Kunstwerke aus dem Inneren der Kirche entfernt eingelagert.

Am Nachmittag des 5. Dezember 1931, eines Samstags, war es dann so weit: Durch sechs Ladungen Dynamit nacheinander wurde die Kirche zerstört. Stehen blieben vorerst die extrem massiv ausgeführten Vierungspfeiler, die die Last der Hauptkuppel getragen hatten, und Teile der Außenmauern; sie mussten im folgenden Jahr von Bauarbeitern abgerissen werden.

Unter der Überschrift „Der Antichrist“ berichtete die katholisch-konservative „Salzburger Chronik für Stadt und Land“ am 7. Dezember 1931: „Die Explosion war so gewaltig, dass sie in der ganzen Stadt gehört wurde. Vorher hatte man die Umgebung der Kathedrale mehrere hundert Meter weit durch einen starken Polizei- und Militärkordon abgesperrt. Im Umkreis von etwa einem Kilometer ging infolge der Explosion ein Staub- und Trümmerregen nieder. Zahlreiche Fensterscheiben wurden durch den ungeheuren Luftdruck heraus eingedrückt.“

Die 1832 bis 1889 errichtete Kirche wurde zerstört, obwohl sie 1922 von der Renovationskirche übernommen worden war, einer prokommunistischen Abspaltung der strikt antibolschewistischen und deshalb harten Einschränkungen unterworfenen russisch-orthodoxen Kirche. Denn Stalin war die Vorstellung fremd, für seine Pläne auf irgendwen Rücksicht zu nehmen. Wohl schon in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre hatte der gerade erst zum Alleinherrscher aufgestiegene Generalsekretär der KPdSU beschlossen, einen gewaltigen „Sowjetpalast“ errichten zu lassen.

Über den Standort gab es zunächst noch Ungewissheit, denn Stalin wollte seinem Plan nicht zu viele Wohnhäuser in der Moskauer Innenstadt opfern. Die „Asnowa“, eine „Assoziation neuer Architekten“, schlug schließlich den Standort der Christ-Erlöser-Kathedrale vor. Stalin stimmte zu und Kaganowitsch organisierte die nur formal wichtige Zustimmung der Moskauer Parteiorganisation.

Dass der „Sowjetpalast“ gigantisch werden würde, stand bereits vor der Sprengung der Kathedrale fest; nicht jedoch, wie er aussehen sollte. Erst nach der Zerstörung des Gotteshauses begann der erste Wettbewerb, der im Februar 1932 zu einem Sieger führte: Boris Michailowitsch Iofan, ein damals 40-jähriger, wenig bekannter Architekt. Sein Entwurf, der noch mehrfach überarbeitet wurde, sah schließlich ein aus sieben sich verjüngenden Stockwerken bestehendes Hochhaus vor, auf dessen Spitze eine 75 Meter hohe Lenin-Statue Platz finden sollte. Alles in allem wäre der Bau 416 Meter hoch geworden, und das Bauvolumen hätte die Summe des Bauvolumens der acht seinerzeit höchsten Wolkenkratzer der USA übertroffen.

Dieser Größenwahn erinnert nicht zufällig an Hitlers (Alb-)Traum einer „Großen Halle“ im Berliner Spreebogen – nur sollte der mit damaliger Technik wohl überhaupt nicht zu errichtende Bau „nur“ 325 Meter hoch sein, dafür aber ein Mehrfaches des Volumens umschließen. Die gigantomanischen Projekte der beiden Diktatoren sind nur eine gewiss nebensächliche, aber doch vielsagende Parallele zwischen Hitler und Stalin. Übrigens nahm Iofan bei Stalin einen ähnlichen Rang ein wie Albert Speer bei Hitler – noch eine Ähnlichkeit.

Während die „Große Halle“ nie wirklich begonnen wurde, legten in Moskau Tausende Bauarbeiter ab 1934 das Fundament des „Sowjetpalastes“. Bis Juni 1941 war der Stahlrahmen des Nordflügels weitgehend komplett; für die Fertigstellung des gesamten Baus wurden weitere 30 Monate veranschlagt. Der Überfall der Wehrmacht beendete jedoch alle Pläne, denn die allermeisten Arbeiter wurden direkt von der Baustelle weg in die Rote Armee eingezogen.

Nach dem Sieg über Hitlerdeutschland gab es wiederholt Anläufe, den Riesenbau doch noch zu realisieren. Doch mit Stalins Tod 1953 erledigte sich das. Ab 1958 wurde die bestehende und fundamentierte Baugrube zu einem riesigen Freibad umgebaut, dem größten der Welt, das bis 1994 bestand.

Schon im Februar 1990 hatte die russisch-orthodoxe Kirche noch von der sowjetischen Regierung unter Michail Gorbatschow die Genehmigung bekommen, die Christ-Erlöser-Kathedrale weitgehend originalgetreu an ihrem ehemaligen Standort zu rekonstruieren. Die Bauarbeiten begannen 1994 mit dem Abriss des Schwimmbades. Im August 2000 wurde die neu errichtete Kirche geweiht und ist seitdem wieder die Hauptkirche des Moskauer Patriarchen, dem Primas der russisch-orthodoxen Kirche.

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Dieser Artikel wurde erstmals im Dezember 2021 veröffentlicht.

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