G anze „24 Stunden“ brauche er, hatte Napoleon I. seinem Admiral Pierre-Charles Villeneuve erklärt, „und alles ist vorbei“. Damit war die Unabhängigkeit Großbritanniens gemeint. Denn dass auf der Insel irgendeine Macht in der Lage gewesen wäre, die französische Invasionsarmee zu stoppen, wagten nicht einmal kühnste Optimisten in London zu hoffen. Das einzige Problem Napoleons lag darin, seine Soldaten über den Kanal zu schaffen. Dafür brauchte der Kaiser 24 Stunden.
Der Mann, der das am 20. Oktober 1805 verhindern sollte, hieß Horatio Nelson (1758–1805), hatte inzwischen einen Arm verloren und lebte in einer Ménage-à-trois. Zudem hatte der Sohn eines armen Landpfarrers nur wenig mit den aristokratischen Admirälen der Royal Navy gemein. Aber anders als diese pflegte er seine Aufgaben nicht mit Lehrbüchern, sondern mit dem gesunden Menschenverstand anzupacken. Das eröffnete Nelson eine bemerkenswerte Karriere. Bereits mit 20 Jahren war er Kapitän, 1797, mit 38 Jahren, wurde er zum Admiral befördert.
In den Kriegen gegen das revolutionäre Frankreich zeigte Nelson seine ganze Klasse. Als Kapitän eines Linienschiffs zeichnete er sich ab 1793 im Mittelmeer aus. 1797 war er maßgeblich am Sieg über die spanische Flotte vor Kap St. Vincent beteiligt. Nachdem ihm vor Teneriffa ein Arm amputiert worden war, vernichtete er im Jahr darauf die französische Flotte vor dem ägyptischen Abukir und entzog damit Napoleon Bonapartes Traum, im Orient ein Imperium zu errichten, die logistische Grundlage. 1801 setzte sich Nelson einmal mehr über die Befehle seiner Vorgesetzten hinweg, als er die – neutrale – dänische Flotte vor Kopenhagen zerstörte. Zwischendurch erregte er durch seine Affäre mit Lady Hamilton, der Frau des englischen Botschafters in Neapel, Aufmerksamkeit.
1805 war es schließlich Nelson, der die Landung von 200.000 sieggewohnten Franzosen in England verhindern sollte. Mit seinem Flaggschiff, der 100 Kanonen tragenden HMS „Victory“ stach er in See. Das Unternehmen begann jedoch mit einem Fehlschlag. Wegen schlechten Wetters misslang die Blockade des Kriegshafens von Toulon, sodass Villeneuve daraus entkommen und zusammen mit spanischen Schiffen Kurs auf die Karibik nehmen konnte. Damit wollte er Nelson zur Verfolgung provozieren, diesen jedoch ins Leere laufen lassen und sich nach seiner Rückkehr vor Boulogne einfinden, wo sich die Armée des côtes de l‘Océan sammelte.
Nelson nahm zwar die Verfolgung auf, konnte den Gegner aber nicht fassen. Der nahm aber nicht direkt Kurs auf den Kanal, sondern ließ sich durch ein Gefecht mit britischen Schiffen vor dem spanischen Kap Finisterre derart beeindrucken, dass er sich in den Hafen von Cádiz flüchtete.
Davor konzentrierte Nelson seine Flotte. Sein Flaggschiff, die HMS „Victory“ war Typschiff einer Klasse von großen Linienschiffen ersten Ranges, die während des Siebenjährigen Krieges auf Kiel gelegt worden waren. Es war 69 Meter lang, trug 104 Kanonen und war mit 850 Offizieren und Matrosen bemannt. Zwischenzeitlich wegen erheblicher Schäden außer Dienst gestellt, war der Veteran im Krieg gegen Frankreich modernisiert worden. Zwar verfügte Villeneuve über 33 Schiffe gegenüber 27 der Navy. Aber die Engländer besaßen die erfahreneren Mannschaften, die wesentlich schneller feuern konnten als ihre französischen und spanischen Gegner.
Vor die Wahl gestellt, zu kämpfen oder abgelöst zu werden, wagte der Franzose schließlich den Ausbruch. Entgegen der üblichen Taktik, in Kiellinie aufzumarschieren, ließ Nelson zwei Geschwader bilden, die im 90-Grad-Winkel auf die französisch-spanische Linie treffen und diese durchschneiden sollten. Wenn das gelang, würde er an dieser Stelle eine zahlenmäßige Überlegenheit besitzen.
Dass der „Nelson Touch“ gelang, verdankte Nelson nicht zuletzt der massiven „Victory“, die als Führungsschiff dem Beschuss standhielt. Nach vier Stunden hatte Villeneuve 18 seiner 40 Schiffe verloren, weitere sanken in einem folgenden Sturm. Den erlebte Nelson nicht mehr. Ein Scharfschütze hatte ihn tödlich verwundet. Bevor er starb, wurde ihm sein Sieg gemeldet, den er mit dem Satz kommentierte: „Gott sei Dank, ich habe meine Pflicht erfüllt.“
Während der Leichnam Nelsons in einem Fass Brandy nach London geschafft wurde, musste Napoleon seine Invasionspläne aufgeben. Für seine Armee fand er jedoch schnell eine andere Verwendung. Bei Austerlitz in Mähren schlug er Anfang Dezember die vereinigten Russen und Österreicher vernichtend. Großbritannien aber blieb für ihn weiterhin unerreichbar.
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Dieser Artikel wurde erstmals im Oktober 2021 veröffentlicht.
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