Interview mit IHK-Präsident Eberhard Flammer

2022-07-23 08:20:28 By : Mr. xing long

IHK-Präsident Eberhard Flammer zieht Bilanz – mit Blick auf Krisenfolgen und die Zukunft Mittelhessens.

Eberhard Flammer steigt aus. Zuerst auf der Hessen-Ebene, nun gibt er den Präsidenten-Posten bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) Lahn-Dill ab. Flammer provoziert gern mit „klarer Kante“. Der Chef des Biedenkopfer Automobilzulieferers Elkamet blickt auf acht Jahre zurück. Ziele erreicht? Welche Aufgaben kommen? Ein Gespräch über Mittelhessen, die Ukraine-Krise und ihre Folgen sowie die Frage, wie sich Beschäftigung in Zukunft entwickeln lässt.

OP: Herr Flammer, als Sie gestartet sind, haben Sie ein Ziel ausgegeben: Ausgleich der Lebensverhältnisse zwischen Stadt und Land. Sind Sie da vorangekommen?

Eberhard Flammer: Das ist eines der ersten Themen geblieben. Als Sprecher der Hessischen Industrie und als Vorsitzer des Hessischen Industrie- und Handelskammertags habe ich das Thema ständig bewegt. Das wird ganz praktisch: Wir sind zum Beispiel bei der Frage der Berufsschulstandorte und der Größe der Klassenbelegungen ein gutes Stück weitergekommen. Wir konnten erreichen, dass die Sollgrößen von 15 auf 12 Schüler gesenkt wurden.

Da geht es natürlich um die Verteilung von Ressourcen zwischen Stadt und Land. Das bedeutet aber auch, es fehlen Lehrer an beruflichen Schulen in Hessen besonders im Fach Metall und Elektro. Größenordnung: 700 plus.

Dann haben wir die Infrastrukturthemen, die besonders im östlichen Kammerbezirk eine Rolle spielen, weiter strapaziert. Die Straßenanbindung ist unzureichend, der Schienenverkehr Frankfurt über Marburg nach Kassel ist ausfallgefährdet.

Noch einmal: Sind die Lebensverhältnisse in Mittelhessen im Vergleich zu den Metropolregionen angeglichen worden?

Wir haben in Wiesbaden ein Verständnis dafür schaffen können, dass hinter dem Berg auch Menschen wohnen. Wir haben eine Stärkung der Technischen Hochschule Mittelhessen erlebt sowohl auf der finanziellen Ebene als auch bei der Besetzung zukunftstragender Stellen: KI-Professur, Optik-Professur, das ist vorangekommen. Wir haben eine Förderung von Studium Plus in der Region in bedeutendem Ausmaß erlebt. Rhein-Main ist gerade mal für 50 Prozent der Wirtschaftskraft Hessens zuständig, der Rest wird in Richtung Süden bis zum Odenwald und nach Norden bis Hannoversch Münden erwirtschaftet.

Wir bleiben noch mal bei der Bildung. In der ersten Corona-Phase mussten die Schulen abrupt auf Digitalisierung umsteigen. Ist da für Sie genug erreicht?

Corona hat in der Digitalisierung wie ein Katalysator gewirkt, aber es fehlt eine Didaktik für die Digitalisierung. Die beruflichen Schulen und staatlichen Schulämter haben ersatzweise sehr viel geleistet, aber es fehlt ein Konzept für den Umgang junger Menschen mit digitalen Themen. Das ist das eine. Das Zweite: Die 500 Millionen Euro für den Digitalisierungspakt in einer Legislaturperiode, da haben wir uns unterhalten über die Verteilung, das ist insgesamt in der Umsetzung schleppend gelaufen. Und bei allem guten Willen der Beteiligten: Der Betrag an sich ist ja lächerlich klein. China gibt das vielleicht in einer Woche aus.

Lassen Sie uns die Lebenssituation in Hessen mit der in anderen Bundesländern vergleichen: Der jüngste Armutsbericht hat eine Verschlechterung der Lage der Menschen in Hessen allgemein und in Mittelhessen im Besonderen errechnet. Hessen ist abgestürzt vom siebten auf den elften Platz im Ländervergleich. Was muss da getan werden?

Wirtschaftspolitik muss immer auf Beschäftigung gerichtet sein, dann fallen automatisch die richtigen Entscheidungen. Wenn Sie den Armutsbericht ansprechen, dann glaube ich, dass wir einerseits die Messlatte immer höher gehängt haben. Kontrapunkt: Inflation.

Jetzt muss man neu aufmischen und muss dafür sorgen, dass am unteren Einkommensbereich auch Einkommensersatzleistungen für gestiegene Heizkosten etc. zur Verfügung stehen.

Wie schätzen Sie die „Konzertierte Aktion“ von Olaf Scholz ein?

Miteinander reden ist immer besser, als übereinander reden. Wir brauchen Einkommenssteigerungen. Das ist aber das Spielfeld der Tarifvertragsparteien. Da haben auch Kammern nichts drin verloren.

Wir haben eine gefährliche Situation in der Ukraine. Sie haben sich beim Jahresempfang der IHK sehr weit aus dem Fenster gelehnt: pro Gas-Stopp und Sanktionen. Würden Sie das noch einmal fordern?

Das war vor vier Monaten. Mittlerweile hat die Realität gezeigt, dass ich mit meinem Alarm gar nicht so abseitig war. Ich glaube, es ist wichtig, sich mental auf die Veränderungen einzustellen, die zwingend kommen. Da hat die Bundesregierung verspätet begonnen, die Gesellschaft darauf vorzubereiten. Unter dem Strich muss ich immer noch sagen: Im Vergleich zu dem, was andere Menschen erleiden, geht es uns bestens. Wir, unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaft können das aushalten.

Wie gehen Sie mit den steigenden Energiepreisen in Ihrem Unternehmen um?

Die verarbeitende Wirtschaft wälzt die Kostensteigerungen möglichst unmittelbar auf die Kunden um. Wir haben einen Erzeugerpreisindex in den ersten vier bis fünf Monaten, der in der Nähe von plus 40 Prozent liegt. Das kommt beim Verbraucher an. Regalweise im Lebensmitteleinzelhandel von 20 Prozent. Auch mit einer Tanksäule können Sie nicht diskutieren. Selbst wenn man das abfedert, bedeutet es unterm Strich Wohlstandsverlust.    Dann muss man dort helfen, wo Not ist, und nur dort. Und nicht mit der Gießkanne.

Wenn die Energie ausfällt, werden wir in aller Ruhe zu Hause bleiben, und wenn es sie wieder gibt, kommen wir wieder zurück und arbeiten weiter.

In der Zwischenzeit gehen keine Marktanteile verloren, weil es ja allen Produzierenden im Markt so ergeht. Jetzt bereiten wir uns darauf vor, dass es zu keinen Stilllegungsschäden kommt. Das Einkommen der Mitarbeiter verdient Beachtung, das werden wir uns nach der Sommerpause anschauen. Das hat auch einen fürsorglichen Aspekt. Niemand ist fröhlich, wenn die Leute nicht fröhlich sind.

Zur IHK: Was hat Sie in der Kammerarbeit maßgeblich bewegt?

Mit „Bündeln, bilden, beraten“ haben wir unsere Arbeit verständlich und begreifbar gemacht. Das war ein sehr wesentlicher Schritt. Die Kommunikation des Hauses zu verbessern, war ein sehr wichtiger Schritt. Wir kämpfen um den Anteil an Schulabgängern für die Ausbildung, wir sind ein gutes Stück über 50 Prozent gekommen. Wir sehen viele technologisch hervorragend aufgestellte Unternehmen, die mit einem zukunftsfesten Angebot unterwegs sind, wo ich Beschäftigung gesichert sehe für den gesamten Kammerbezirk. Das lässt mich ganz gelassen das Amt übergeben.

Gibt es Baustellen, die Sie hinterlassen?

Die Infrastruktur-Probleme im Hinterland bleiben schmerzhaft. Stellen Sie sich die Situation vor, zu normalen Arbeitszeiten von Biedenkopf nach Dillenburg zu kommen, das ist unseres Landes nicht würdig. Auch wenn Sie mit der Bahn von Kassel nach Frankfurt kommen wollen, das ist so störungsanfällig, dass man das eher lässt.

Wie sehen Sie die Zukunft der Industrieregion Mittelhessen?

Wir als Industrieregion werden unsere Chancen finden. Die Nachfragemärkte werden sich aufgrund des Klimawandels ändern. Neue Märkte im Themenfeld Nachhaltigkeit wird es im Elektronikbereich geben, beim Thema Energiespeicherung, optische Elektronik, in der Werkstofftechnik, der Prozesssteuerung, bei Spezialmaschinen und beim E-Antrieb – da sehe ich starke Möglichkeiten, nicht nur für den Sektor der Automobilzulieferindustrie. Fußfassen werden wir sicher in der Wasserstoff-Thematik.

Die Chancen einer Transformation sind weit größer als die Risiken, immer Technologieoffenheit vorausgesetzt. Und natürlich bleibt ein starkes Auge für Beschäftigung, das können die Leute hier. Im Zentrum steht immer Beschäftigung, und da ist die Welt bei uns noch in Ordnung. Wir blicken auf 200 Jahre Industriegeschichte, wir haben das immer gekonnt. Unternehmen, die das nicht schaffen, übergeben die Beschäftigung an die Betriebe, die es schaffen.